DREI MEGATRENDS IN DER CITY
Die hannoversche Innenstadt erfindet sich gerade neu. Während große Handelsketten aufgeben, setzen inhabergeführte Geschäfte auf Innovation. Der Einzelhandel floriert, die City wird zum Melting Pot, und die Freude am Mitgestalten ist groß wie nie.
Wer sich in der hannoverschen Innenstadt vom Kröpcke aus über den Platz der Weltausstellung durch die Karmarschstraße Richtung Markthalle bewegt, findet auf der linken Seite zwei besondere Geschäfte. Da ist zunächst Tee Seeger – gegründet 1743 als königlicher Hof-Thee-Lieferant. Denn damals zog mit der Personalunion zwischen Hannover und dem britischen Königshaus Teekultur an die Leine. Heute ist das inhabergeführte Geschäft als das älteste Teespezialhaus in Deutschland bekannt. Rund 130 erlesene Teesorten, feine Schokoladen und freundliche Gespräche des Personals gehören dazu.
Gleich nebenan ist Machwitz Kaffee zu genießen. Die traditionsreiche Kaffeerösterei existiert seit 1883. Gegründet wurde sie damals in Danzig, zog 1919 nach Hannover und produziert heute noch im bewährten Trommelröstverfahren ganz in der Nähe des Ladens.
Von diesen inhabergeführten Einzelhandelsgeschäften sind in Hannover noch mehr zu finden. Einige Beispiele aus einer längeren Liste lauten so:
- Trüffel Güse, 1921 gegründet, sogar mit dem World Chocolate Award ausgezeichnet, fertigt nach eigenen Rezepten Trüffel und weitere Spezialitäten
- Brauhaus Ernst August, 1986 als Familienunternehmen mit Gasthausbrauerei revolutionär und Vorbild für viele andere Lokale
- Schuh Neumann, 1903 gegründet, verfolgte schon früh Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit
- Optiker Becker & Flöge: 1836 begann Wilhelm Ludwig Becker sein Geschäft als Hofoptiker des Königs, 1893 kam August Flöge ins Geschäft mit Brillen. Endgültig fusionierten sie 1982
- Parfümerie Liebe, 1871 von Kaufmann Wilhelm Liebe in der Georgstraße eröffnet, wird heute in siebter Generation von der Familie geführt.
Worin liegt das Geheimnis dieser Traditionsläden? Wie können Sie sich im „Internet-Shopping-Paket-Zustell-Zeitalter“ behaupten? Was lassen Sie sich einfallen, um ihre Kundschaft zu finden und zu binden? Wie verändert sich die hannoversche Innenstadt überhaupt gerade? Soll eine der größten Fußgängerzonen Niedersachsens noch weiter wachsen? Soll das Auto an den Stadtrand? Fahren alle Besucher nur noch Fahrrad?
Schließlich ist die City eine der größten zusammenhängenden Fußgängerzonen Deutschlands – und das direkt am Knotenpunkt der U-Bahnen, Busse sowie Nah- und Fernverkehrszügen. Rund um den Kröpcke befindet sich auch heute trotz der Schließung zweier Häuser großer Warenhausketten einer der umsatzstärksten und attraktivsten Einzelhandelsstandorte Deutschlands mit etwa 350.000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Hannover belegt Rang 6 von 15 untersuchten Großstädten in Deutschland. Mehr als 5.000 Unternehmen sind da angesiedelt; fast 80.000 Menschen arbeiten hier, mehr als 36.000 wohnen in der City. Das Einzugsgebiet reicht weit über die Region Hannover hinaus und umfasst rund 1,8 Millionen Menschen. Angebote und Events ziehen Menschen aus ganz Niedersachsen und den umliegenden Bundesländern nach Hannover. Es gibt verkaufsoffene Sonntage mit Rahmenprogramm, Late-Night-Shopping und bunte Bühnenprogramme quer durchs Jahr.
Wer Trends früh erkennt, die relevante Entwicklung für den hannoverschen Einzelhandel daraus ablesen kann und starke Impulse setzt, ist Martin Prenzler. Er ist Geschäftsführer der City-Gemeinschaft. Sie bündelt rund 560 Stimmen aus Handel, Wirtschaft und Gastronomie. Zu den Mitgliedern zählen neben Einzelhandelsunternehmen auch die Landeshauptstadt Hannover, die Deutsche Messe AG, der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband, die Stadtwerke sowie Banken und Versicherungen Hannovers. Hauptanliegen aller Akteure ist eine attraktive Innenstadt zu jeder Jahreszeit. Dazu gehören ein hoher Aufenthaltskomfort, Sicherheit und Sauberkeit. Gerade läuft auf allen Ebenen von Verwaltung, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft der Innenstadt-Dialog. Darin wird über den Umbau der City diskutiert.
Megatrend eins: Mitsprache und Mitgestalten
„Ich bin frohen Mutes, dass dieser Innenstadt-Dialog gelingt“, versichert Martin Prenzler. Er spüre hohen Zuspruch und ein außerordentliches Maß an Lebendigkeit. Für den Geschäftsführer der City-Gemeinschaft ist das einer von drei Megatrends, die auch Hannover stark berühren: Partizipation an der Gestaltung der City. Auch Verwaltungen hätten da schnell gelernt, erzählt Prenzler. Anders als früher seien nicht mehr fertige Lösungen gefragt. „Die Bürger wollen mitgestalten, mitreden und selbst Veränderungen einleiten.“ Wichtiges Stichwort sei da Akzeptanz, und zwar bei allen Beteiligten.
Eines der Ziele lautet: Weniger Autos, weniger Durchgangsverkehr, weniger Stellplätze am Straßenrand, bei gleichzeitig weiterhin problemloser Erreichbarkeit der Parkhäuser.
Zusätzlich sollen am Rande der Stadt neue Plätze für Park and Ride entstehen. In der City selbst sind großzügige Flanierräume geplant. Mehr gepflanztes Grün auch zum Erzeugen eines besseren Klimas, da die Temperaturen in der Innenstadt rund zwei Grad höher liegen als im Umland. Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) betont in einem Gespräch mit dem Stadtmagazin „nobilis“ (Podcast Folge 8 – Verkehr der Zukunft): „Viele teilen das Ziel: Wir brauchen mehr Radwege, weitere Flächen dafür, statt für Autos, mehr öffentlichen Nahverkehr und Freiflächen für Fußgänger.“ Onay nennt das „Zeit zum Entschleunigen und für mehr Lebensqualität“. Die City-Gemeinschaft sieht das ähnlich, setzt den Akzent aber anders. Martin Prenzler sagt: „Die Innenstadt muss erreichbar sein für jegliche Art von Verkehrsmitteln.“
Megatrend zwei: Nutzung der Häuser ändert sich stark
Wohnen ist wieder gefragt, und zwar in den oberen Etagen mitten in der City. Es seien meist junge Menschen, die das Flair genießen, die mittendrin sein wollen und über frühen Anlieferverkehr für die Geschäfte mal hinweghören, beschreibt es Prenzler. Die Belegung der Etagen in den Häusern der City ändert sich auch sonst gerade rasant. Während noch bis Mitte der 2000er-Jahre fast jeder Preis gezahlt worden sei, würden nun die Kosten optimiert. Im Erdgeschoss seien weiterhin Läden zu finden. Auch die Gastronomie breite sich hier wieder aus. In den mittleren Etagen sind Sozietäten und Arztpraxen eingezogen. Bei der guten Erreichbarkeit der City sei auch die Patienten- und Kundenfrequenz höher. „Ein Untersuchungsgerät eines Arztes amortisiert sich hier einfach schneller“, verdeutlicht Prenzler. Insofern wird es spannend sein, welche neuen Nutzungen für leerstehende Gebäude etwa der Handelskette Karstadt überzeugen.
Megatrend drei: ein Melting Pot gedeih
Die Citys werden heterogener – auch in Hannover. Wichtig ist die Mischung aus Angeboten. So entsteht ein Melting Pot aus Kultur, Architektur, Freizeit, sozialem Austausch und Einkaufserlebnis. Menschen sind soziale Wesen, sie suchen Kontakt zu anderen sowie Zerstreuung, „Deshalb gehen sie in die Innenstadt“, stellt Prenzler fest. Wer sich die Zahlen für Hannover von 2008 im Vergleich zu 2017 anschaut, erkennt: Es gibt weniger Betriebe, aber mehr Fläche und mehr Umsatz in der Innenstadt. Umbrüche zu erkennen und zu begleiten, das seien die Stärken der Stadtgesellschaft, meint Prenzler. Ende der 1960er-Jahre wuchs Konkurrenz an Läden auf der grünen Wiese. Seit den 1990er-Jahren wächst der Internet-Handel. Gerade die alteingesessenen Geschäfte wissen das aber für sich zu nutzen.
Sie bauten über das Internet ihre Kundenbindung aus, sie gehen präziser auf die Wünsche ein und sie sind besser informiert, was die Käufer heute möchten. Das ist oft der Vorteil von Traditionshäusern: Sie sind es gewohnt und darin versiert, neue Entwicklungen aufzugreifen und schnell umzusetzen. Wer zum Beispiel eines der inhabergeführten Geschäfte betritt, wird nicht nur freundlich bedient, sondern auch gut beraten. Die Mitarbeiter nehmen sich Zeit auch für ein zwangloses Gespräch mit dem (Stamm)-Kunden, so werden Kundenbindungen gepflegt. Diese Einkaufsatmosphäre überzeugt noch immer, und natürlich die ausgewählte Qualität vieler Produkte.
Die weiteren Zentren nahe der City und im Umland
Neben der City am Hauptbahnhof (das A-Zentrum) haben die Marktforscher weitere Stadtteilquartiere ausgemacht. Die Lister Meile nördlich des Hauptbahnhofs ist das B-Zentrum. Sie wurde 2022 gerade 50 Jahre alt und ist als Folge des U-Bahn-Baus entstanden. Damals sahen viele diese „neumodischen Flaniermeilen“ mit Straßencafés höchst skeptisch. „In Hannover sitzt man nicht auf der Straße“, hieß es damals forsch. Das hat sich gottlob geändert. Die Forschung hat noch 9 C-Zentren, 21 D- und 22 E-Zentren entdeckt. Gerade in den Quartieren von Linden oder Limmer bis Kleefeld oder Sahlkamp ist eine quirlige soziokulturelle Mischung mit Initiativen, Geschäften, innovativer Gastronomie und erstaunlicher Vielfalt gewachsen.
Im Umland ist das ebenso der Fall. In Lehrte hat sich am Bahnhof neben einem neuen Parkhaus eine Einzelhandelswelt etabliert, die modern und ansprechend ist. In Langenhagen ist eine Mischung aus Einkaufen, Gastronomie und Unterhaltung entstanden, die als einzigartig gilt. Ob Neustadt am Rübenberge oder Barsinghausen, Burgwedel oder Burgdorf – überall setzen Einzelhändler neue Akzente, finden Nischen für ausgefeilte Angebote und laden Kunden zum Erlebnisshopping ein. Veränderung leben wäre ein passendes Motto.
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